sozialversicherungsabkommen mit
der türkei
familienversicherung
Ungleiche Behandlung
Gesundheitspolitik: Zwischenstaatliche Sozialversicherungsabkommen
belasten die deutschen Krankenkassen
Jens Jessen
Seit Jahren hat die Gesetzliche
Krankenversicherung (GKV) in Deutschland mit der wachsenden Lücke
zwischen Einnahmen und Ausgaben zu kämpfen. Im ersten Quartal 2003
betrug die Differenz 630 Millionen Euro. Die GKV schleppt etwa sechs
Milliarden Euro Schulden aus den Vorjahren mit. Die rot-grüne
Regierung versucht wieder einmal mit einer Gesundheitsreform die
Wende zu schaffen. Weder die Kassen noch die Ökonomen trauen ihr das
zu.
In diese Situation platzte das
Westfalen-Blatt vergangenen Monat mit einem Artikel unter der
Überschrift "Ein Tabu - milliardenschwer". Nach einer Recherche des
Westfalen-Blatts sind die Familienangehörigen eines in Deutschland
lebenden Ausländers kostenlos in der GKV mitversichert. Ganz
unabhängig davon, ob dieser arbeitet, arbeitslos ist oder
Sozialhilfe empfängt. Das gilt auf der Basis zwischenstaatlicher
Sozialversicherungsabkommen etwa mit der Türkei,
Bosnien-Herzegowina, Marokko und Tunesien. Verträge dieser Art
wurden auch mit einer Reihe anderer Länder abgeschlossen. Sinn und
Zweck ist es, die Angehörigen der in Deutschland lebenden Ausländer
mit den Angehörigen deutscher Versicherter gleichzustellen.
Allerdings ist der Begriff
"Angehöriger" in den islamischen Ländern völlig anders definiert als
in Deutschland. In den Abkommen ist fixiert, daß nicht nur - wie in
Deutschland - Ehegatten und die Kinder unter vorgegebenen
Bedingungen mitversichert sind, sondern "Familienangehörige" sich
nach der in dem Herkunftsland des ausländischen Versicherten
geltenden Rechtslage verstehen. Insbesondere in islamischen Ländern
sind Angehörige häufig die Mitglieder der Großfamilie, also nicht
nur Frau und Kinder, sondern auch Eltern und Geschwister.
Hier wird der Solidargedanke auf den
Kopf gestellt und der deutsche Beitragszahler geschröpft. Die
Anfrage des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann wurde von der
Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 15/337 der 15. Wahlperiode)
wachsweich beantwortet: "In der Türkei lebende Familienangehörige
von in Deutschland krankenversicherten türkischen Arbeitnehmern, die
nicht ihrerseits erwerbstätig sind, erhalten nach dem
deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen vom 30. April 1964 im
Krankheitsfall Leistungen der türkischen Krankenversicherung (sog.
Sachleistungshilfe).
Die der türkischen
Krankenversicherung hierdurch entstandenen Kosten werden von der
deutschen Krankenversicherung erstattet.
... Der Bundesregierung liegen keine
Zahlen darüber vor, wie viele Familienangehörige in der Türkei von
bei deutschen Krankenkassen versicherten Arbeitnehmern Leistungen
der türkischen Krankenversicherung erhalten haben, deren Kosten von
den deutschen Krankenkassen zu erstatten sind."
Genaue Zahlen sind also offiziell
nicht bekannt - an das wohl tatsächlich milliardenschwere Tabu will
aber bislang niemand heran. Doch mehr Transparenz ist nötig in einer
Situation, in der für die Defizite im Gesundheitswesen die deutschen
Versicherten mit mehr Zuzahlungen und weniger Leistungen bluten
werden. Bevor das geschieht, sollte die Bundesregierung alle
Verpflichtungen aus Sozialversicherungsabkommen und die daraus
erwachsenden finanziellen Belastungen auf den Tisch legen. Die
ungleiche Behandlung deutscher und islamischer Familien ist aber
nicht die einzige "Gerechtigkeitslücke".
Wer sich in Europa umsieht, stellt
fest, daß in jedem EU-Land ein anderes Gesundheitssystem besteht.
Die Träger des jeweiligen Systems, die Finanzierung, das
Leistungsspektrum und die Selbstbeteiligung der Versicherten
unterscheiden sich von Land zu Land. Großbritannien hat ein
lupenreines staatliches System. Die Finanzierung erfolgt zu über 80
Prozent über Steuern.
Der Nationale Gesundheitsdienst
(National Health Service) basiert auf der Idee des
Wohlfahrtsstaates. Obwohl die Gesundheitsversorgung immer wieder zu
Klagen Anlaß gibt, wollen die Briten nach Umfragen keine Änderung.
Ärztemangel, marode Krankenhäuser und eine rigide Kürzung der
Leistungen bei den über 65 Jahre alten Menschen hält die Insulaner
deshalb nicht davon ab, den NHS zu preisen. Auch die Schweden werden
vom Staat gesundheitlich betreut. Wie in Großbritannien stellen die
langen Wartezeiten für Behandlungen ein großes Problem dar. Das gilt
auch für Dänemark, Finnland, Griechenland, Irland, Italien, Portugal
und Spanien. Diese Systeme sind kostengünstiger als die
nichtstaatlichen. Dafür sind sie Mangelsysteme, die einiges gemein
haben mit dem 1990 verschwundenen Gesundheitssystem auf dem
Territorium der neuen Bundesländer. Die Versorgung in Deutschland
hat im Vergleich mit diesen Systemen einen Spitzenrang.
Deutsche Krankenhäuser versorgen
mittlerweile Patienten aus dem Bereich der Länder mit staatlichem
Gesundheitsdienst. Zu untersuchen wäre, ob die
Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und diesen Ländern
zu einem ungerechten Lastenausgleich führen. Wenn die in Deutschland
erbrachten Leistungen für Bewohner der EU-Länder von den zuständigen
Sozialleistungsträgern zu deren Bedingungen abgegolten werden, müßte
eine Differenz der Bezahlung zwischen erstatteter und in Deutschland
üblicher Honorierung von der Gesetzlichen Krankenversicherung
getragen werden.
Deutsche Ärzte werden von den
staatlichen Gesundheitssystemen abgeworben, um die größten
Personallücken zu schließen. Diese Ärzte fehlen jetzt zur Umsetzung
des Gesundheitssystem-Modernisierungs-Gesetzes (GMG), das auf dem
Hausarztprinzip beruht und die Krankenhäuser mit einer Reihe neuer
Aufgaben belasten will. Sowohl Haus- als auch Krankenhausärzte
fehlen inzwischen in Deutschland.
Ein umfassendes Konvergenzszenario im
Bereich der Gesundheitssicherungssysteme in der EU bedeutete
einschneidende Systemveränderungen. Eine Angleichung der Systeme
würde die einseitige Ausbeutung Deutschlands abstellen. Die
staatlichen Systeme wollen das nicht. Nach den bisherigen Urteilen
will das der Europäische Gerichtshof auch nicht. Fehlsteuerungen,
Logikbrüche und daraus resultierende Ressourcenverschwendung bleiben
so lange, bis gar nichts mehr geht. Die Situation wird in den
kommenden Jahren nicht leichter, da zu den heute 15 Mitgliedern der
EU 2004 zehn weitere Staaten treten, deren Probleme in der Regel
ungleich größer sind als die der alten Mitglieder. Da Deutschland
der Reparaturbetrieb par excellence ist, kann mit neuen Belastungen
gerechnet werden.
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